05-Einführung zu dem Begriff „Poesie“ von Nicola Caroli/ Introduction to the term "Poetry" by Nicola Caroli

Begriff
Poesie ist eine Kunst, die Kunst der Sprache, im Vergleich bspw. zu der Kunst der Malerei oder des Tanzes.

Sekundär beschreibt der Begriff auch eine poetische Qualität, einen transzendenten Moment oder das Schaffen einer sich der Sprache entziehenden Wirkung.
In diesem Sinne kann man Poesie auch als eine Sprache, die Stille erzeugt, beschreiben.

Ursprung
Poesie existierte im antiken Griechenland nur in der Verbindung von Sprache, Musik und Tanz. Die Poesie ist älter als die Schrift und somit auch älter als die Literatur, ihr Ursprung ist stimmlicher und körperlicher Natur. Ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. war sie eine eigene Gattung, die im Anschluss an Demokrit benannt wurde (gr. poein: „machen, verfertigen, erfinden“). Die Poesie galt als ein Werkzeug zur Erinnerung, zur Kontaktaufnahme mit Göttern und den Toten und war generell ein Ausdrucksmittel für Gefühle und Gedanken.

Durch Metaphern und mnemotische sowie sprachliche Techniken, konnten Inhalte unmittelbar, anschaulich und gleichsam einprägsam mitgeteilt und verbreitet werden. Eine Metapher ist ein sprachliches Bild. Sie ist kein Bild im visuellen Sinne, welches ein Betrachter von aussen sieht, sondern ein inneres Bild, in dem Subjekt und Objekt zusammenfallen, z.B. "Mauer des Schweigens“. Eine mnemotische Technik ist z.B. das Versmaß - ein reglementierter Rhythmus - und Reim - ein reglementierter Klang. Eine sprachliche Technik involviert bspw. Wortarten, Wortzusammenhänge, Syntax, Zeilen- oder Strophenanordnung.

Eigenschaften
Die Haupteigenschaften von Poesie sind Klang und Rhythmus und deren Interaktion. Es ist die Organisation dieser Interaktionen, ein System aus wiederkehrenden, variierenden und kontrastierenden Elementen wie Laute, Silben, Worte, Satzteile, Zeilen, Versen, die ein Gedicht ausmacht. Die Poesie ist in sich dialektisch, einerseits hebt sie die Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit von Sprache hervor, andererseits bring sie sie in eine strenge Form voller Regeln. Je größer die Gegensätzlichkeiten in einem Gedicht sind, desto dynamischer und wirksamer ist es.

Besonderheit
Die Kunst der Poesie besteht darin, dass durch die Sprache des Gedichts Sprache im Leser entsteht. Eine Sprache für Phänomene, für die man oft keine Worte findet: z.B. Liebe, Natur, den Tod. Die Poesie beschreibt nicht, sie ruft hervor. Sie schreibt nicht vor, sie umschreibt, sie unterschreibt nicht, sie lässt etwas offen.

Beispielgedicht
Anhand eines Beispiels kann man sich einen Einblick in die Eigenschaften und Merkmale von Poesie verschaffen. Dafür dient die "Die Feder" von Joachim Ringelnatz.

Die Feder

Ein Federchen flog durch das Land;
Ein Nilpferd schlummerte im Sand.

Die Feder sprach:“Ich will es wecken.
Sie liebte andere zu necken.

Aufs Nilpferd setzte sich die Feder
Und streichelte sein dickes Leder.

Das Nilpferd sperrte auf den Rachen
Und musste ungeheuer lachen.

(Joachim Ringelnatz, Sämtliche Gedichte, Diogenes Verlag)

In dem Gedicht vollzieht sich nur eine Handlung: Eine Feder kitzelt ein Nilpferd. Das Wort „kitzeln“ kommt in dem Gedicht aber nicht vor. Es wird umschrieben durch „wecken“, „necken“, „setzen“ und „streicheln“.
Die Feder und das Nilpferd sind paradigmatische Gegensätze: klein/ groß, leicht/ schwer etc. Der Kontakt des Gegensätzlichen (Feder/ Leder) weist gleichzeitig auf eine Gemeinsamkeit hin: Feder und Leder sind beides Arten von Körperhülle. Die Worte „Feder“ und „Nilpferd“ tragen auch die Umkehrung von „Feder“ und „Pferd“ in sich.
Die Feder ist aktiv, das Nilpferd passiv: Während die Feder bewusst fliegt, spricht, weckt, liebt, neckt, setzt und streichelt, schlummert das Nilpferd, sperrt den Rachen auf, weil es lachen muss. Das sind alles reflexartige Bewegungen.
Die Klänge für die Feder sind leicht und fein - i, e, f und ch, für das Nilpferd schwerer und gröber u, a, pf und r.

Das Gedicht enthält nur konkrete Substantive und Verben, es gibt ein Adverb. Die konsequente Vermeidung von abstrakten und beschreibenden Worten machen die Situation und die Charaktere lebendig.
Das Gedicht hat ein jambisches Versmaß, d.h. es ist unaufgeregt und tritt in den Hintergrund. Es gibt 4 Strophen à 2 Zeilen im Tetrameter (vier Versfüße). Jeder Zweizeiler hat seinen eigenen Reim. In der ersten und dritten Strophe kommen die Feder und das Nilpferd zusammen vor, in der zweiten und vierte Strophe jeweils nur einer. Alle Zahlenverhältnisse führen zu einer Zwei, so schafft das Gedicht ein perfektes Gleichgewicht zwischen den beiden Ungleichen.

Jedes Gedicht ist anders, folgt anderen Regeln und Zielen. Nicht jedes Gedicht reimt oder hat ein traditionelles Versmaß. Aber jedes gelungene Gedicht trägt, bewusst oder unbewusst, einige Eigenschaften von "poiein" - eine eigens geschaffene Sprache - in sich.


Empfehlungen zur Lektüre
(deutsch und englischsprachig)

agar agar - zauzurim, Peter Rühmkorf; Rowohlt (Reim)
Lob der Vokale, Ernst Jünger; Die Arche (siehe Titel)
Lyrik Baukasten, Alexander Nitzberg; Dumont (Handbuch mit Übungen)
Ulrich Greiners Lyrikverführung, Ulrich Greiner; C.H. Beck (Gebrauchsanweisung zum Lesen von Gedichten)
Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, Andreas Thalmayr, Die Andere Bibliothek (siehe Titel)

An Introduction to English Poetry, James Fenton; Penguin (siehe Titel)
52 Ways of Looking at a Poem, Ruth Padel; Vintage (Essays über Merkmale der zeitgenössischen Poesie)
The Philosophy of Composition, Edgar Allen Poe; (Essay, siehe Titel)
The Poetry Tool Kit, Rhian Williams; Continuum (Handbuch)
Rules for the Dance, Mary Oliver; Houghton Miffling (Versmaß und Rhythmus)
The Sounds of Poetry, Robert Pinsky; Farrar, Strauss and Giroux (Klang)

Term
Poetry is an art, the art of language, as in comparison with the art of painting or of dancing for example.

Secondarily the term also describes a poetic quality, a transcendental moment or the creation of an effect that goes beyond language. In this sense one could also describe poetry as a language that creates silence.

Origin
Poetry existed in ancient Greece only in a combination of language, music and dance. Poetry is older than scripture and thus older than literature. Its origin is vocal and physical. From the 3rd century B.C. it was a genre of its own, which was named by Demokrit „poein“: „to make, invent“. Poetry was considered a tool for memory, for making contact with the gods and the dead and generally as a means of expression for feelings and thoughts.

Through metaphors and mnemonic as well as linguistic techniques, poetic speech could be transmitted and spread immediately and clearly and at the same time memorably. A metaphor is a figure of speech or a linguistic image. It is not an image in a visual sense which one looks on but an inner image, in which subject and object concur, as in „wall of silence“ for example. A mnemotic technique is metre for example - a reglemented rhythm - and rhyme - a reglemented sound. A linguistic technique involves parts of speech, verbal connections, syntax, line lenght and stanza arrangement for example.

Characteristics
The characteristics of poetry are sound and rhythm and their interaction. It is the organisation of these interactions, a system of repeating, varying and contrasting elements such as sounds, syllables, words, parts of sentences, lines and verses which make up a poem. Poetry is in itself dialectic, on the one hand it heightens the ambivalence and ambiguity of language, on the other hand it brings it into a strict form full of rules. The greater the contrasts are in a poem, the more dynamic and effective it is.

The art of poetry consists in evoking language in the reader. It is a language for phenomena which are hard to put into words: love, nature, death for example. Poetry doesn‘t describe, it evokes. It doesn‘t prescribe, it paraphrases. It doesn‘t make a statement, it leaves something open.

Every poem is different, follows different rules and has different intentions. Not every poem rhymes or is written in metre. But every good poem contains, consciously or unconsciously, some characteristis of „poiein“ - a singularly created language.

Recommendations for reading
An Introduction to English Poetry, James Fenton; Penguin (see title)
52 Ways of Looking at a Poem, Ruth Padel; Vintage (Essays about characteristics of contemporary poetry)
The Philosophy of Composition, Edgar Allen Poe; (Essay, see title)
The Poetry Tool Kit, Rhian Williams; Continuum (Handbook)
Rules for the Dance, Mary Oliver; Houghton Miffling (Verse and rhythm)
The Sounds of Poetry, Robert Pinsky; Farrar, Strauss and Giroux (see title)